Arthur Miller über Inge Morath und Grenzen



Ingeborg Hermine "Inge" Morath (1923-2002) war - ohne Zweifel und ohne Übertreibung - eine der größten Fotografinnen. Morath war eine offene Weltbürgerin, die ihr Mann, Schriftsteller Arthur Miller (1915-2005) folgendermaßen beschrieb:

"Die Faszination durch die Grenze war für Inge Morath, die in Graz geboren wurde, der im Süden Österreich gelegenen, nach Südosten weisenden Grenzstadt, etwas ganz Natürliches. Die Familie ihrer Mutter besaß in der Untersteiermark, die heute zu Slowenien gehört, Häuser und Grundstücke. Als von der deutschen Kultur geprägtes Kind verlief, so könnte man sagen, eine Art Grenze durch Inges Mutter Mathilda, die für die an der Grenze zu Österreich lebenden Slawen besonderes Verständnis hatte. 

Für Inge war der Begriff der Grenze zwischen Kulturen und Rassen (sic) im Hinblick auf die Völkerverständigung sehr wesentlich. Großgeworden in der Zeit des Nationalsozialismus unter dem Eindruck einer extremen, ja manisch nationalistischen Weltanschauung, widersetzte sie sich der verbreiteten Tendenz, Individuen nach ihrer Herkunft zu charakterisieren und nicht als menschliche Wesen. (...) Ihre historische Betrachtungsweise ließ sie ebenso tiefen Respekt vor Unterschieden wie vor Individuen und ihren Kulturen empfinden. (...)

In der Idee der Grenze schien sie die Komplexität ihrer eigenen Existenz gefunden zu haben. Die Grenze ist das Ende von etwas, aber auch der Beginn, der Ausweg und der Eingang, der Wunsch zu vergessen und das Bedürfnis nach Erinnerung. Inge war zwischen diesen widerstreitenden Kräften hin- und hergerissen. Sie konnte sich abgestoßen fühlen von dem rückgratlosen Gehorsam, wie er der militaristischen Seite der deutschen Kultur innewohnt, und im nächsten Moment Deutschlands Kunst und Poesie in Schutz nehmen.
Was sie aber unabhängig von allen nationalen Gesichtspunkten immer verteidigte, waren menschliche Würde und Freiheit. Als Photographin arbeitete sie viel mit Juden zusammen und hatte zahlreiche Freunde unter ihnen, ja sie heiratete sogar einen solchen, übersah dabei aber nicht, was sie an der arabischen und moslemischen Kultur fasziniert hatte. Entsprechend weigerte sie sich, diese Menschen zu dämonisieren. Inge war eine Frau ohne Dämonen. (...)"

Arthur Miller

::: Excerpts in English: LINK

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- Arthur Miller (2003) Vorwort. Inge Morath und Grenzen. In: Strassegger, R. (Hrsg.) Inge Morath. Grenz.Räume. Last Journey. München et al.: Prestel. Übersetzung von Nikolaus G. Schneider
- Foto via Light Galleries

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